Muster des Elektronenflusses

Die unsichtbare Kunst elektronischer (Mikro)architektur

Steigende Komplexität und Miniaturisierung elektronischer Anlagen macht deren bereits sehr komplexes Innenleben stets undurchdringlicher, für eine ganzheitliche Wahrnehmung.
Entsprechend verändern sich die ornamentalen Aspekte dieser Gerätschaften: sie werden vielschichtiger und unsichtbarer für die NutzerInnen. Diese Veränderungen bedingen sich durch technologische Modalitäten der Weiterentwicklung des Phänomens des gesteuerten Elektronenflusses.

Im folgenden möchte ich die Muster- und Ornamenthaftigkeit der Strukturen von elektronischen Baugruppen untersuchen sowie auf die Technologien ihrer Produktion eingehen, welche unmittelbar an vormals rein künstlerische Prozesse gekoppelt sind.

Gleichwohl will ich auf die ornamentalen Eigenschaften von ICs eingehen, welche aus der unmittelbaren Zweckbindung der Chips hervorgehen. Absolut rational und in einem Umfang angelegt, der von Einzelpersonen nicht mehr ganzheitlich begriffen werden kann, weisen diese Strukturen in Vielschichtigkeit und Komplexität ihrer Muster fraktale Eigenschaften auf.

Historische Entwicklung

Bereits frühe elektrische Schaltungen wiesen klare ornamentale Züge auf. Diese ergaben sich aus den physikalischen Phänomenen und Grundprinzipien der jeweiligen Verbindungstechnik, Arten der Montage, Standardisierung der Größe und Beschriftung von Bauelementen, sowie der hierarchischen Struktur des technischen Aufbaus.

Diese Faktoren trugen zu einer ornamentalen Strukturierung, auf jedem der genannten Gebiete, bei. Neben offensichtlichen ästhetischen Eigenschaften hat diese Ornamentalität primär eine funktionale Bedeutung: sie ist essentiell für das Lesen, Verstehen, Entwerfen, Warten solcher Schaltungen und repräsentiert zugleich den aktuell optimal möglichen Stand technologischer Lösung von klassischen Problemen des Abwärmemanagements, Effizienz, Ausfallsicherheit und der Platzeinsparung.

Die reproduktiven Technologien, welche zuvor der Herstellung rein dekorativer Patterns dienten, werden nun dafür eingesetzt, funktionsgebende Muster herzustellen, welche für die Steuerung des gerichteten Elektronenflusses notwendig sind.

Es sind Muster, die aus Mustern entstehen und technologisch auf das Totalste optimiert werden. Sie bilden auf mikroskopischer Ebene ein riesiges ornamentales Kunstwerk endloser Reproduktion: fabriziert werden Milliarden von Chips, die jeweils Milliarden einzelner Transistoren an Bord beherbergen. Im Gegensatz zu den von Krakauer analysierten Tiller Girls finden diese Muster kein großes Publikum, dass sie optisch bewundert, obwohl sie zugleich fast jedem Menschenwesen dienen und bekannt sind. Mit der Zeit wurde der menschliche Einfluss auf die Gestaltung dieser technoiden Muster bedingter: wo früher die mikrofotolithografischen Masken für die Verarbeitung von Chips noch von Ingenieuren und Ingenieurinnen händisch angefertigt wurden, ist heute eine hochkomplexe Rechentechnik am Werk, die durch immer abstraktere Operationsvorgaben der Menschen geleitet wird.

Siebdruck- und Ätzmasken für die Platinenherstellung haben einen ähnlichen Wandel durchgemacht. Anfangs wurden die Vorlagen dieser Masken ebenfalls von menschlicher Hand gezeichnet oder geklebt, um dem Anwendungsfall entsprechend herunterskaliert zu werden.

Heutzutage kommen stattdessen Electronic Design Automation Lösungen zum Einsatz, welche eine weitestgehend automatisierte Arbeitsweise in vielschichtigen Vektorformaten ermöglichen. Gleichzeitig minimieren die genannten Entwicklungen in den Prozessen des Designs und der Herstellung die üblichen Artefakte und Implikationen des Mediums, wodurch immer freiere Anwendungsfälle ermöglicht werden. Diese Entwicklungen und dadurch hervorgerufene Änderungen der Ornamentalität, möchte ich untersuchen.

Muster der Verbindungstechnik

Punkt zu Punkt Verdrahtung

Historisch gesehen ist die Punkt zu Punkt Verdrahtung die allererste Verbindungstechnik. Sie ist heute noch vielerorts anzutreffen: in Prototypen der Hobbyisten, industriellen Schaltschränken, sowie in den meisten haushaltsüblichen Sicherungskästen. Diese Art der Verbindung gilt als sehr fehleranfällig, da neben zufälligen Faktoren das Verhalten der montierenden Person eine entscheidende Rolle für die finale Qualität spielt. Andererseits bedingt die Formbarkeit von Verbindungsdrähten die grösstmögliche Flexibilität dieser Bauart und macht ein chaotisches sowie extrem akkurates Endergebnis gleichermaßen möglich.

Aus diesem Grund entwickelte sich über die Jahre in Fachkreisen eine an Fetischismus gleichende Obsession mit akkurater Ausführung solcher Montagearbeiten, was die Entstehung einer daraus resultierender Kultur der Muster und Ornamente zufolge hatte. Die ungeschriebenen Gesetze dieser Musterbildung umfassen Sortierung und Bündelung der Verbindungselemente nach Farbe und Größe, maximale Vermeidung von Überkreuzungen, 5 Erfüllung einheitlicher Biegeradien und Drahtabstände sowie deren Biegung und Abzweigung in ausschließlich rechten Winkeln. Am Ende entstehen sehr regelmäßige und übersichtliche Gebilde aus aufsteigenden parallelen Linien, die einem Labyrinth ähneln, den es möglichst einfach und übersichtlich zu gestalten gilt.

Die gleichmäßige Anordnung erinnert an obsessive Strukturierung des Knollings und soll im Idealfall so diagramhaft wie möglich gestaltet werden. Reduktion chaotischer Bildreize hat hier oberste Priorität, wodurch oft ein hoher Grad an Redundanzen und Umwegen, gegenüber dem rein technisch Notwendigen hingenommen wird.

Im Gegensatz zum klassischen Ornament tragen diese, quasi dekorative Eigenschaften, jedoch eine starke narrative Funktion. Sie dienen der Übersichtlichkeit und sollen das etwaige „reverse Engineering“ bei Wartung und Ergänzung erleichtern. Sie fungieren wie ein Gruß an nachfolgende Generationen von technischem Personal, dass sich mit der Anlage in Zukunft auseinandersetzen wird. Es soll ein Gefühl vermitteln, dass hier nichts dem Zufall überlassen wurde und gleichzeitig die Hoffnung erweckt werden, dass den Unsichtbaren aber dennoch sehr wichtigen Aspekten der Installation (wie Materialgüte, Anzugsdrehmomente diverser Polklemmen, initiale Störfreiheit und vorschriftsgemäße Erprobung aller Komponenten) mindestens eine genau so penible Beachtung zugekommen ist.

Fädeltechnik

Bei Fädeltechnik handelt es sich um ein Verdrahtungsprinzip elektronischer Baugruppen, bei dem nähähnliche Arbeitsweisen verwendet werden. In der Serienfertigung kam diese Technologie zwischen den 50er und 70er Jahren zum Einsatz und wird heute lediglich vereinzelt als eine kompakte und flexible Reparaturtechnik eingesetzt.

Als absoluter Höhepunkt der Komplexität und Miniaturisierung von Fädeltechnik gilt die Herstellung der heute obsoleten Ringkernspeichereinheiten. Diese Speichermedien besitzen eine markante Ornamenthaftigkeit. Je nach Ausführung der Fädelart können zwei Speicherarten, nichtflüchtiger Natur, erzeugt werden: eine wiederbeschreibbare, sowie eine Nur-Lese-Speicherstruktur, beide mit einem wahlfreien Zugriff.

Die Read-Only Variante des Kernspeichers, auch Fädelspeicher genannt, erlangte ihre größte Prominenz im Apollo Guidance Computer bei der NASA. Bei dieser Speichertechnologie werden die Werte der einzelnen Bits permanent über die Art der Verwebung entsprechender Ringe bestimmt. Dabei fungieren die Ringe und ihre Wicklungen als kleine Transformatoren: die Kopplung bzw. Nichtkopplung von Lese- und Stromleitungen bedingt den logischen Wert des einzulesenden Bits. Auf diese Weise wurden zu speichernde Programmdaten als Struktur der Fädelkerneinheiten encodiert, um daraufhin von kunstvollen Näharbeiterinnen, in akriebischster Handarbeit, entsprechend verwoben zu werden.

Modul der magnetic-core memory

Die wiederbeschreibbare Variante des Ringkernspechers weist hingegen, selbst unter dem Mikroskop, eine absolut gleichmäßige Struktur auf. Da der Schreibprozess hier programmatisch erfolgt und nicht durch Besonderheiten der Wicklung bedingt ist, bildet das Gitter aus Drähten und Ferritkernen ein unterbrechungsfreies, gleichmäßiges und geradezu perfektes Ornament.

Modul der core rope memory aus dem Apollo Guidance Computer

Die Ornamentalität der genannten Speicherstrukturen ist von der äußerst gleichmäßigen Anordnung in Form einer Matrix bedingt. Wenige Millimeter große Perlen aus ferromagnetischem Material sind in einem rechteckigen Raster dicht nebeneinander angeordnet und werden von vertikal, horizontal und diagonal verlaufenden Kupferdrähten durchdrungen und an ihrem Platz gehalten. Je nach Ausführung, können bei genauer Betrachtung in den Read-Only Einheiten kleine Ungleichmäßigkeiten festgestellt werden: entweder sind es die Ferritperlen die jeweils um 90° gedreht werden, um eine entsprechende Drahtführung zu ermöglichen, oder es sind die Drähte, die einen Umweg um bestimmte Kerne machen, die wiederum immer gleichmäßig positioniert sind.

Freeform Soldering Skulpturen

Eine besondere Disziplin der Schaltungsbaukunst, welche die Ornamenthaftigkeit der elektronischen Montage als oberste ästhetische Tugend hochhält, ist die freeform Skulptur. Hierbei handelt es sich um selbsttragende, luftgestützte Installationen die ohne jegliches Trägersubstrat oder Chassis auskommen. Die Struktur wird aus der Fläche herausgelöst und geht in das Dreidimensionale über. Die sonst üblichen Kupferdrähte werden hierbei oft durch Stäbe und Röhrchen aus Messing ersetzt um einen besonders hohen Grad an Steifigkeit, Geradlinigkeit und Glanz zu erzielen.

Peter Vogel, Tempowechsel, 2010 Photozelle, Lautsprecher, elektronische Bauteile, 54 x 61 cm

Die “freeform soldering” Skulpturen weisen die kunstvollste Formensprache unter allen Schaltungsformen auf. Die Techniken und Schmückungsarten sind stark an die der Juwelierskunst angelehnt.

Verglichen mit maschinell gefertigten Gerätschaften bedingt deren rein händische Bauweise eine relativ einfache und grobe Schaltungsstruktur, welche jedoch durchaus kompliziert erscheinen mag, da die substratlose Bauweise für die totale Exponierung aller Elemente sorgt.

Aus den Überlegungen der Statik werden funktional überflüssige Elemente in solche Konstruktionen großzügig eingebaut, deren Formsprache oft an Muster des Art Deco erinnert. Gleichzeitig finden sich bei vielen Exemplaren Referenzen zur plakativen geometrischen Abstraktionen des Bauhauses. Die tragenden Elemente werden oftmals traversenartig gestaltet und regelmäßig angeordnet. Dabei weisen sie organische, florale, architektonische, technoide oder fraktale Züge auf.

Hervorgehoben und akzentuiert werden dabei die Materialeigenschaften wie Glanz, Geradlinigkeit, Regelmäßigkeit und Fragilität. Funktionsgebende elektronische Bauteile werden nicht, wie sonst üblich, rational angeordnet. Deren Positionierung wird der Ästhetik des Gesamtkunstwerks untergeordnet.

Je nach Art der zugrundeliegenden Schaltung kann dabei eine weitestgehend selbsterklärende Formation entstehen, deren Wirkungslogik mit entsprechendem Fachwissen direkt abgelesen und nachvollzogen werden kann. Gleichzeitig existieren auch extrem verflochtene und künstlich verkomplizierte Strukturen, deren Funktion von den stilisierenden Bestandteilen nahezu komplett überschattet wird.

Muster der Leiterplatten

Gewöhnliche Leiterplatten, auch PCBs(Printed Circuit Board) genannt, besitzen eine oder zwei leitende Schichten, aber in speziellen Anwendungen können es weitaus mehr sein. Ein modernes PC Motherboard kann aus 10 und mehr Kupferebenen bestehen. Diese dienen sowohl der Strom- und Signalverteilung als auch der Abschirmung gegen elektromagnetische Interferenzen und Wärmeableitung.

Eine Grundlage für die Ornamenthaftigkeit der PCBs und darauf verbauter Komponenten bildet stets ein Raster. Diesem Raster, oder auch Pitch, sind fast alle Designvariablen unterworfen. Abstände zwischen den Leiterbahnen, Löt- und Testpunkten auf den Platinen stellen immer ein vielfaches vom Pitch dar. Das gleiche gilt für alle darauf verbauten Chips und Bauteile – das sogenannte Verpackungsformat standardisiert die Außenabmessungen aller einzelner Komponenten und deren Bestandteilen, ebenfalls nach dem Rasterprinzip: Anzahl von Kontaktfüßen (leg count), deren Größe und Dichte, Arretierungs- und Testpunkte sowie Wärmeleitende Pads werden nach dem Raster angelegt und positioniert.

So kommt es dazu, das funktional sehr unterschiedliche Bauteile auf den ersten Blick fast identisch aussehen.Verbaut auf fertigen Platinen werden diese, bei Betrachtung vom ungeschulten Auge, als ein monoton-kryptisches Ornament aufgefasst. Gruppierung verwandter Komponenten und deren streng horizontale oder vertikale Ausrichtung dienen hauptsächlich den funktionalen Zwecken, wie z.B. der Einfachheit maschineller Fertigung und Positionierung, größerer Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit im Sinne des Entwurfs.

Eine derartige Anordnung sorgt indirekt ebenfalls für eine höhere Ornamenthaftigkeit. Übergang von rein manueller Planung hin zur Electronic Design Automation (EDA), einer Teildisziplin von CAD (Computer Aided Design), welche sich dem Entwerfen Mikroelektronischer Komponenten verschreibt, hat die Ornamentalität elektronischer Produkte drastisch erhöht, indem es direkte menschliche Einwirkung auf die Gestaltung mittelbar machte bzw. völlig ausschloss.

Entwurfsautomatisierung verlagerte das Wirkungsfeld von IngenieurInnen auf immer abstraktere Aspekte elektronischer Planung: anstatt sich direkt mit Verlegung von Leiterbahnen zu beschäftigen, verbringen sie ihre meiste Arbeitszeit damit, generelle Aufgaben wie der Planung von Zustandsautomaten, logischen Schaltplänen und Dokumentation zu erarbeiten, während Aufgaben wie Layouting, Routing und Entflechtung von Leiterplatten weitestgehend automatisch erledigt werden. Das gleiche gilt auch bei dem Entwurf von Chips, deren Dies, Verpackungen sowie Multi-Chip-Modulen.

Für einige oft auftretende Entwurfsaufgaben bieten EDA Systeme eine systemische und visuell wiedererkennbare Lösung. So werden Probleme des Signallaufzeit- und Längenausgleiches effektiv durch die automatische Einbringung von einheitlich aussehenden zickzack-musterartigen Stellen in die Leiterbahnen gelöst. Automatisch generierte Antennen und Widerstände werden ebenfalls maschinell nach einem einheitlichen Plan erzeugt und weisen dadurch äußerst musterhafte Züge auf.

Ähnlich wie es bei der Punkt zu Punkt Verdrahtung der Sicherungskästen geschieht, treten bei der Planung von PCBs ebenfalls obsessive Designpraktiken zu tage: so gelten z.B.
Abzweigungen der Leiterbahnen, die im rechten Winkel gelegt werden als unprofessionell und werden von der Mehrheit der Planerinnen pauschal vermieden, obwohl es dafür nur in manchen Szenarien physikalisch oder technologisch bedingte Anhaltspunkte gibt. Stattdessen wird der “Future-Knick” bevorzugt: eine Abzweigung oder Biegung, die im Winkel von 45° bzw 135° geschieht. Aus der Tatsache dass der Winkel von 90° bei der Leiterbahnverlegung als “unschön” und “laienhaft” gilt, entstand über die Jahre ein selbstverstärkender Trend, der heutzutage als eine Art ungeschriebenes Gesetz aufgefasst werden kann.

Muster der Siliziumtechnologie

Heutzutage sind Scheiben von Silizium das am öftesten verwendete Substrat, für die Herstellung von integrierten Schaltungen (ICs) und darauf basierender Chips. Diese Scheiben werden auch Wafers genannt. Sie entstehen aus einem wurstförmigen Stück Siliziumkristall, indem sie in dünne, runde Platten geschnitten werden, die als Ausgangsmaterial für die massenhafte Erzeugung integrierter Schaltungen dienen.

Die wurstförmigen Kristalle aus reinem Silizium werden unter hohen Temperaturen gezüchtet und weisen absolut gleichmäßige Gitterstruktur der Atome auf. Das Vielfache dieses natürlich entstehenden Rasters bildet die Grundlage für alle zukünftigen Muster und Ornamente, welche die spätere Funktion des Chips bestimmen. Die moderne Technologie erlaubt die Herstellung von Mustern, deren Artefakte nur wenige Rasterzellen d.h. wenige Nanometer groß sind.

Eine weitere entscheidende Materialeigenschaft von Silizium ist die Tatsache, dass es sich hierbei um einen Halbleiter handelt. Durch gezielte Manipulation der kristallinen Struktur kann es in den Zustand des Leiters, Isolators oder in eine Zwischenstufe der Beiden versetzt werden. Diese Modifikation erfolgt durch eine mikrofotolithografische Strukturierung, welche über die geschichtete Anbringung von Schutz-, Dotier- und Ätzmasken erfolgt, ähnlich wie es bei den künstlerischen Prozessen der Radierung und des Siebdrucks geschieht.

Eine der weiteren Ornamentebenen der Siliziumtechnologie ist auf dem fertig präparierten Wafer mit bloßem Auge erkennbar: die Kerne einzelner Prozessorschaltungen sind kompakt nebeneinander angeordnet und warten darauf im finalen Schritt aus der Platte herausgebrochen zu werden, daher kommt auch der Begriff Chip. Parallel zur Entkopplung der Gestaltung des Funktionalen vom unmittelbaren künstlerischen und handwerklichen Einfluss des Menschen, bildete sich ein gegenläufiges Phänomen: durch die Erleichterung beliebiger Gestaltung von Vorlagen elektronischer Bauteile bot sich die Möglichkeit, dekorative Elemente an den Stellen einzuarbeiten, wo diese keine Einwirkung auf die Funktionalität und Design des Produkts haben. Tief im Inneren des Geräts verborgen warten diese “Easter Eggs” darauf, von Wenigen gefunden zu werden. Diese Auserwählten sind keine gewöhnlichen NutzerInnen der Gerätschaften, sondern Wartungspersonal, Hobbyisten und industrielle Spione.

Die Entstehung dieser Praxis der versteckten Botschaften spielt keine funktionale, jedoch eine kulturelle Rolle. Nicht selten an die Zeichen der Popkultur gekoppelt, nimmt diese unsichtbare Bedeutungsschicht des nanoskopischen Briefwechsels ihren Ursprung in der exklusiven, dennoch pauschal-kostenlosen Möglichkeit seiner Kreation und Reproduktion.

Für die Platzierung derartiger Kunst gibt es keine kanonischen Orte: meistens werden diese Botschaften in den relativ groß angelegten Flächen der Hochleistungschips untergebracht,
die aus Gründen des Wärmemanagements nicht genutzt werden konnten. Diese Flächen werden auch als “Dark Silicon” bezeichnet. In anderen Fällen findet man solche Artefakte auch mitten in der Enge eines Schaltungsbausteins, wenige Rasterzellen von aktiven
Funktionsgruppen entfernt.

Das Ornament der Masse

„Das Massenornament ist der ästhetische Reflex der von dem herrschenden Wirtschaftssystem erstrebten Rationalität.“ (Siegfried Kracauer und Karsten Witte, Das Ornament der Masse: Essays, 6. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1994, S. 54)
Längst hat sich die Rechentechnik in ihrer Komplexität von den einzelnen Modulen, die vormals für die logischen und rechnerischen Operationen verwendet wurden abgekoppelt.
Einzelne Logikbausteine werden in scheinbar unendliche mehrdimensionale Ketten verkoppelt, die schiere Menge der digitalen Abakuse bildet eine undurchdringliche, jedoch
perfekt funktionierende Aneinanderreihung, wie die von Krakauer beschriebenen “unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind” (Kracauer und Witte, S. 50).

Intel 1103 1024-bit (1K) DRAM chip

Ähnlich wie die “schicksalhaft verbundenen Gruppen” (Kracauer und Witte, S. 51) der Tiller Girls, welche er beschreibt, ergibt die Aneinanderreihung solcher Bausteine viel mehr als die Summe der einzelnen Bestandteile, nämlich einen universellen Rechenorganismus – den Allzweck-Computer, fähig alle Aufgaben zu lösen, die durch mathematische Logik lösbar sind. So künstlich, artifiziell und von Menschen bedingt diese Ornamente auch sein mögen, “der Mensch als organisches Wesen ist aus den Ornamenten geschwunden”(Kracauer und Witte, S. 60), das Ornament des Elektronenflusses ist weder für die Betrachtende zum Anschauen bestimmt, noch beherbergt es direkte Artefakte des menschlichen Denkens und Handelns. Mit Ausnahme bereits genannter “Easter Eggs” werden diese Artefakte von Maschinen stets wegoptimiert und neu interpretiert, so dass vom Ursprünglichen Modell eines Rechenwerks oft nur eine abstrakte Idee übrig bleibt.

Ornament und Tugend

In seinem Programmtext “Ornament und Verbrechen” stellte Adolf Loos das Ornament der Degeneration gleich. Er sah im Drang der Musteranbringung den Beweis einer niederen Entwicklungsstufe der Urvölker bzw. Zeichen der Degeneration von westlichen Menschen (Adolf Loos, Sämtliche Schriften : In 2 Bden / Adolf Loos. Hrsg. von Franz Glück, Wien: Verl. Herold, o. J., S. 276). Loos stellt dem Ornament die gegenständliche Kunst gegenüber und wertet jegliche dekorativen Zierelemente in Kunst und Architektur ab (Loos, 277).

Transparente Ätzmaske des Intel 8080A Microprocessors

Selbst wenn man die chauvinistische Seite seiner Logik ausklammert, so kann die Argumentation von Loos der Natur von elektronischen Ornamenten nicht gerecht werden, weil diese geradezu eine Manifestation des funktionalen ist. So ornamenthaft die Oberfläche eines Chips auch sein mag, diese Ornamente sind eine direkte Repräsentation der zugrundeliegenden diskreten Logik und ein Sieg der hochtechnologischen Materienstrukturierung der westlichen Welt.

Abgesehen von wenigen oben erwähnten versteckten Zierbildern, welche markanterweise nicht ornamenthaft, sondern eher
gegenständlich ausfallen, bilden die Ornamente der Siliziumtechnologie eine maschinelle Substanz, welche die Operationsmöglichkeiten einer Schaltung definiert.

Ob Addierwerk oder eine Pufferspeicherzelle: das Ornament der Siliziumtechnologie manifestiert den Triumph des Ineinandergreifens von Maschinenteilen und Funktionsblöcken
sowie die notwendigen und hinreichenden Mitteln der Umsetzung einer bestimmten Funktion, welche nur dann sinnvoll ausgeführt wird, wenn jedes noch so kleine Detail ihrer Komponenten absolut intakt ist und tadellos seine Bestimmung verrichtet.

Generalisiert stimmt diese Aussage auch: das Funktionieren eines Chips, aus wie vielen Abermilliarden von Transistoren und Gattern er auch bestehen mag, ist nur dann gewährleistet, wenn jedes Einzelne dieser mikroskopischen Komponenten absolut tadellos seine Arbeit verrichtet. Fällt eine einzelne Komponente davon aus, kann die Funktion nicht mehr ausgeführt werden und die häufigste Konsequenz daraus ist der Totalausfall des ganzen Chips.

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